Lesehinweis
Ein wichtiges Problem ist die Unterscheidung zwischen Multikulturalismus und dem, was man "pluralen Monokulturalismus" nennen könnte. Gilt die Existenz einer Vielfalt von Kulturen, die möglicherweise wie Schiffe in der Nacht aneinander vorbeifahren, als gelungenes Beispiel für Multikulturalismus? Die Unterscheidung ist, da Großbritannien gegenwärtig hin- und hergerissen ist zwischen Interaktion und Isolation, von zentraler Bedeutung (und zudem relevant für die Frage von Terrorismus und Gewalt).
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Wenn dagegen zwei Stile oder Traditionen nebeneinander existieren, ohne sich zu treffen, muß man eigentlich von einem "pluralen Monokulturalismus" sprechen. Die lautstarke Verteidigung des Multikulturalismus, die wir dieser Tage häufig vernehmen, ist oft nichts anderes als ein Plädoyer für pluralen Monokulturalismus. Wenn ein junges Mädchen aus einer konservativen Einwandererfamilie sich mit einem englischen jungen Mann verabreden möchte, ist das sicherlich ein multikultureller Schritt. Versuchen ihre Aufpasser sie jedoch daran zu hindern (was recht häufig geschieht), ist das kaum als multikulturelle Maßnahme zu betrachten, denn in diesem Fall geht es ja gerade darum, die Kulturen voneinander abzuschotten. Dennoch erhält das elterliche Verbot, das zum pluralen Monokulturalismus beiträgt, sehr lautstarke Unterstützung von seiten angeblicher Multikulturalisten, die als Begründung anführen, es gelte die traditionellen Kulturen zu achten, so als sei die Freiheit der jungen Frau überhaupt nicht von Bedeutung und als müßten die verschiedenen Kulturen gewissermaßen in abgeschotteten Schubladen verharren.
In eine bestimmte soziale Umgebung hineingeboren zu sein ist an sich, wie schon erwähnt, keine Ausübung kultureller Freiheit, denn es handelt sich nicht um einen Wahlakt. Die Entscheidung hingegen, an der traditionellen Lebensweise festzuhalten, wäre eine Ausübung von Freiheit, falls die Wahl nach der Erwägung anderer Alternativen getroffen würde. Als eine solche Ausübung von Freiheit müßte auch die Entscheidung gelten, vom überkommenen Verhaltensmuster mehr oder weniger abzurücken, wenn man nach reiflicher Überlegung zu ihr gelangt ist. Kulturelle Freiheit kann in der Tat häufig mit kulturellem Konservatismus kollidieren, und wenn man im Namen der kulturellen Freiheit für den Multikulturalismus eintritt, kann man sich nicht standhaft und uneingeschränkt dafür aussprechen, jemand habe unerschütterlich an seiner überkommenen kulturellen Tradition festzuhalten.
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Man darf, wie schon erwähnt, die Menschen dieser Welt nicht nur unter dem Aspekt ihrer religiösen Zugehörigkeiten betrachten, als eine Föderation von Religionen. Aus denselben Gründen darf ein multiethnisches Großbritannien nicht als eine Ansammlung von ethnischen Gemeinschaften betrachtet werden. Doch der "föderative" Standpunkt hat im heutigen Großbritannien großen Anklang gefunden. Obwohl sich tyrannische Weiterungen daraus ergeben, daß man Menschen in starre Schubladen vorgegebener "Gemeinschaften" sperrt, verstehen viele diesen Standpunkt eigenartigerweise als Verbündeten der individuellen Freiheit. Es gibt sogar eine vieldiskutierte "Vision" von "der Zukunft des multiethnischen Großbritannien", in der das Land "eine eher lockere Föderation von Kulturen (ist), die zusammengehalten wird von Banden des Interesses und der Zuneigung und einem kollektiven Daseinsgefühl ".
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Diese Haltung äußert sich darin, daß man zusätzlich zu den vorhandenen christlichen nun aktiv neue "Konfessionsschulen" für muslimische, hinduistische und Sikh-Kinder fördert, was nicht nur pädagogisch fragwürdig ist, sondern obendrein verhindert, daß die Kinder umfassend darüber unterrichtet werden, was das Leben in einem Land ohne Rassentrennung von ihnen verlangt. Viele dieser neuen Institutionen entstehen ausgerechnet in einer Zeit, in der religiöse Polarisierung eine wichtige Ursache von Gewalt in der Welt ist [...].
http://www.perlentaucher.de/vorgeblaettert/leseprobe-zu-amartya-sen-die-identitaetsfalle-teil-2.html
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