Mordfall Arzu Özmen: Warum sie nicht trauern
von Thomas Baader
Durch den Trauermarsch für die ermordete Arzu Özmen am 21. Januar 2012 sind weitere Fragen aufgeworfen worden. Interessanter als die Feststellung, wer an der Kundgebung teilnahm, ist derzeit, wer nicht daran teilnahm.
Das "Westfalen-Blatt" verwies in diesem Zusammenhang auf Äußerungen von jesidischen Teilnehmern der Kundgebung, die darauf hindeuten, dass es Teile ihrer Gemeinschaft eher ungerne sehen, wenn sie sich an dem Trauermarsch beteiligen. Diejenigen unter den Jesiden, die trotzdem gekommen sind, verdienen Respekt und Hochachtung. Sie haben erkannt, dass es eben nicht der Sinn dieser Veranstaltung war, eine bestimmte Gruppe von Menschen zu stigmatisieren, sondern ein Zeichen zu setzen gegen Gewalt im Namen der "Ehre". Die Frage, die sich hier jedoch stellt, lautet: Woran stören sich Teile der jesidischen Gemeinde, sodass der Trauermarsch als Ganzes abegelehnt und den Teilnehmern unlautere Motive unterstellt werden?
Ganz offensichtlich fürchtet man, dass das Jesidentum in der Öffentlichkeit negativ dargestellt würde. Diese Furcht scheint sehr stark zu sein, obwohl die befürchteten Äußerungen im Zusammenhang mit dem Trauermarsch unterblieben sind, ja sogar oft besonders zurückhaltende und maßvolle Töne angeschlagen wurden.
In der ganzen Verhaltensweise der "Trauermarsch-Verweigerer" liegt ein innerer Widerspruch, den die Betroffenen selbst offenbar nicht erkennen: Gerade der Versuch, den guten Ruf des Jesidentums vor Schaden zu bewahren, ist es, der tatsächlich den guten Ruf des Jesidentums schädigt. Das mag im ersten Moment paradox klingen, liegt aber an der Art und Weise, wie dieser Versuch unternommen wird: einer Trauerkundgebung fernbleiben, die Teilnehmer in Internetforen beschimpfen, ein ständiges Beleidigtsein, Überempfindlichkeit - dies alles muss bei vielen Menschen zwangsläufig den Eindruck erwecken, dass die "Verweigerer" sich eher in Solidarität mit den Tätern üben als mit der ermordeten Arzu Özmen.
Dieser Eindruck, der entsteht, mag möglicherweise nicht den Tatsachen entsprechen - dennoch hat er gravierende Folgen. Ein vom "Westfalen-Blatt" wiedergegebenes Zitat macht dies deutlich: "Es ist traurig aber wahr, dass andere sich mehr für unsere Leute einsetzen als wir selber." Wer sich mehr um das Ansehen "unserer Leute" sorgt als um diejenigen, die ermordet werden, bewegt sich schon gefährlich nahe an der Gedankenwelt der Ehrenmörder selbst: Denn auch diesen ist ein Menschenleben weniger wichtig als das, was andere von ihnen denken.
Jene Jesiden, die den Trauermarsch als gegen sich gerichtet sehen, sind Gefangene ihrer Traditionen und ihrer Furcht. Sie kuscheln sich regelrecht in eine Opferrolle ein, die aber in diesem konkreten Fall einzig und allein Arzu Özmen zusteht. Diejenigen unter den Jesiden, die am Trauermarsch teilgenommen haben, haben sich über unbegründete Bedenken und Gruppenzwang hinweggesetzt. Sie haben damit unter Beweis gestellt, dass sie aufgeklärt und modern denken. Nur reaktionäre Geister wären fähig, ihnen dieses Verhalten als "Verrat" an der eigenen Gemeinschaft vorzuwerfen.
Was hat die Religion damit zu tun?
An dieser Stelle ist es wichtig, eine Unterscheidung zu treffen: Die Rolle einer Religion kritisch zu hinterfragen ist etwas völlig anderes als eine Religion zu stigmatisieren. Die Rolle der christlichen Religion etwa wurde in der Vergangenheit ständig kritisch hinterfragt (Kreuzzüge, Hexenverbrennungen, Zwangsbekehrungen, das Frauenbild, Missbrauchsfälle in katholischen Internaten usw.). Diese Form der Kritik muss auch jede andere Religion aushalten.
Denn statistisch erwiesen ist: Ehrenmorde kommen besonders oft in einem Milieu vor, dass sich laut eigenen Angaben als sehr religiös einstuft. Durch den Verweis auf eine wissenschaftlich gesicherte Tatsache kann eigentlich niemand beleidigt sein, und wenn er es doch ist, dann ist dies ein Zeichen für die bereits erwähnte Überempfindlichkeit und Überidentifizierung mit den Tätern. Es wäre hier berechtigterweise die Frage zu stellen, inwieweit traditionell geprägte Erziehungsmuster einen Mangel an Fähigkeit zur Selbstkritik erzeugen - und mit Selbstkritik ist nicht nur die Kritik an der eigenen Person gemeint (die in der Tat völlig unschuldig sein kann), sondern eben auch Kritik an der Gruppe von Menschen, der man sich zurechnet: der eigenen Ethnie, der eigenen Nation, der eigenen Religionsgemeinschaft, dem eigenen Milieu, der eigenen Familie. Und das Jesidentum in Deutschland muss für sich selbst einen Weg finden, verantwortungsvoll und kritisch mit der Tatsache umzugehen, dass Jesiden in den bislang bekannten Ehrenmordfällen überproportional oft als Täter und Opfer in Erscheinung treten. Es muss eine überfällige Debatte führen und darf sie nicht verweigern. Religion mag nicht die Ursache von Ehrverbrechen sein, aber sie vermag es, durch den Aufbau autoritärer Strukturen, Ehrverbrechen zu begünstigen und zur Legitimation herangezogen werden.
Hier ist auf den ägyptischstämmigen Politologen Hamed Abdel-Samad zu verweisen, der im Hinblick auf die weit verbreitete Kritik am Islam zu einem nachvollziehbaren und produktiven Schluss gelangt ist: Wenn man die Kritik, wie sie derzeit geäußert werde, als unfair empfinde, dann müsse man statt dessen eben selbst diese Kritik (an der eigenen Religion) üben. Was hier für den Islam formuliert wurde, gilt auch für das Jesidentum.
In dieser Hinsicht ist die eher schwache Präsenz der Jesiden bei der Trauerkundgebung ein fatales Zeichen für die Öffentlichkeit. Es wäre im Eigeninteresse der Jesiden in Deutschland gewesen, mit möglichst großer Deutlichkeit und bei jeder sich bietender Gelegenheit in Erscheinung zu treten. Der Verweis darauf, dass man ja am Abend zuvor einen Vertreter zu einem Gedenkgottesdienst geschickt habe, kann da nicht überzeugen. Der Zentralrat der Jesiden wäre gut beraten gewesen, in großer Anzahl vor Ort zu sein.
Streit als Chance
Statt dessen erleben wir Reaktionen, die uns befremden. An verschiedenen Stellen im Internet werden Teilnehmer der Kundgebung beschimpft - "den Deutschen" ginge es nur um Hetze. Wären die Urheber dieses Vorwurfes bei der Kundgebung anwesend gewesen, dann wüssten sie, dass nicht wenige dieser Deutschen an jenem Tag um eine kurdische Jesidin geweint haben. Aber die Uneinsichtigen gehen sogar vereinzelt so weit, die kritische Berichterstattung der letzten Wochen zum Anlass zu nehmen, um sich als Jesiden in der Rolle der "Juden von heute" zu sehen - eine abartige Form von Holocaustneid, die auch schon zu früheren Gelegenheiten von muslimischen Vertretern praktiziert wurde.
All diesen Reaktionen ist eines gemein: Sie leisten keinerlei Beitrag zur Lösung der Probleme, die innerhalb des jesidischen Milieus nun einmal existieren - sicherlich nicht bei jeder Familie, aber leider wohl bei zu vielen. In diesem Sinne sind auch manche Reaktionen wohlmeinender Nicht-Jesiden eher hinderlich: Verwiesen sei hier auf die Debatte auf der Facebook-Seite "Arzu Lena Özmen". Zwischen die trauernden Stimmen, die auf eine Änderung der Verhältnisse drängen, mischen sich dort immer wieder überharmonisierende Töne, die die Debatte am liebsten unterbinden wollen.
Die Debatte um die Ursachen würden nur Unfrieden schaffen, heißt es da sinngemäß. Ja, das tut sie in der Tat, aber dies stellt eine Stärke und keine Schwäche der Debatte dar. Unfrieden ist dringend nötig, wenn die Verhältniss nun einmal so sind, dass ihretwegen ein Mensch ermordet wurde. Ein Unfrieden, der darin besteht, unbequem zu sein, den Dingen auf den Grund zu gehen und kritische Fragen zu stellen, ist einem Frieden, der sich als Frieden des Todes herausstellen könnte, vorzuziehen. Unfrieden bedeutet Streit, und Streit ist eine Chance auf Veränderung. Nicht gemeint ist ein Streit zwischen Jesiden und Nicht-Jesiden - vielmehr verhält es sich so, dass die modern und liberal Denkenden unter den Jesiden zu den wichtigsten Akteuren dieses Streites werden müssen. Ob sich irgendwer dadurch angegriffen oder beleidigt fühlt, ist vor diesem Hintergrund tatsächlich von sekundärer Wichtigkeit. Die Vermeidung weiterer Todesfälle hat Priorität vor der Vermeidung verletzter Gefühle.
Wer das verstanden hat, ist angekommen. Nicht nur in dieser Gesellschaft, sondern in der Moderne überhaupt.
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