Lesehinweis
Das Modell des Multikulturalismus schließlich antwortet auf diese Schwierigkeit mit dem Verzicht darauf, religiös-kulturelle Praxen rechtlich zu regulieren. Es erlaubt nicht nur das Nebeneinander von verschiedenen religiösen Gemeinschaften innerhalb des staatlichen Territoriums, sondern – anders als das Säkularisierungsmodell – auch die Darstellung und Aufführung von Religion in der Öffentlichkeit. Ghettobildung wird nicht ausgeschlossen, Diasporalagen können entstehen, jede Person kann ihre kulturelle Tradition wählen und ausleben. […] Die Idylle eines solchen multikulturellen Miteinanders scheint allerdings nur aus der sicheren Distanz des Bildungsbürgertums der Vorstädte ein erfolgreiches Programm der Integration zu sein. In Wahrheit kommt nämlich auch das Multikulturalismus-Modell nicht ohne eine Grenze aus: Sie verläuft zwischen denjenigen, die aus der Distanz Multikulturalismus fordern, und denjenigen, die in die Auseinandersetzungen an Ort und Stelle verstrickt sind. Wer aber die sichere Distanz nicht wahren kann – deutlicher: Wer schon einmal von muslimischen Jugendlichen in Neukölln oder von katholischen Jugendlichen in Londonderry verprügelt wurde, hat dafür wenig Verständnis. Ähnliches gilt für die muslimische Ehefrau, die von ihrem Mann geschlagen wurde, ihn anzeigt und vor Gericht erfahren darf, dass sie als Muslimin mit derartigen Körperverletzungen doch wohl hätte rechnen müssen. […] Ich warte immer noch auf die klassentheoretische Erklärung des Umstandes, dass Hindus kein Rindfleisch und Muslime kein Schweinefleisch essen, dass in öffentlichen Räumen katholischer Länder sich mehr Müll sammelt als in denen protestantischer Länder oder dass in den Familien der afroamerikanischen Ghettos die Jungfräulichkeit der Mädchen nichts gilt, während sie in den türkisch-deutschen Familien eine alles andere überragende Bedeutung hat. Hier auf die Ökonomie zu verweisen, erklärt gar nichts.[…] Kulturelle und religiöse Überzeugungen beeinflussen und begründen Handeln.
- Prof. Dr. Bernhard Giesen: Warum Hindus kein Rindfleisch essen. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 7.8.2011.
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