Lesehinweise
Das Verdienst dieses Films liegt vor allem darin, dass die Autorinnen sehr deutlich machen, was man sich selbst immer wieder vor Augen führen muss: Gerold Becker und Hartmut von Hentig, sein Lebenspartner, waren mächtige Menschen, Personen von Rang und Namen, fest verankert in der linken Elite, das „Powerpaar der Pädagogik“. Becker saß auf Fernsehsofas, hielt Vorträge, diskutierte auf Podien, ein gerngesehener Gast, genauso wie Hentig.
http://www.faz.net/artikel/C30280/im-fernsehen-odenwaldschule-sie-hatten-die-macht-kinder-zu-zerstoeren-30481546.html
In der Tat sind jene Szenen am eindrucksvollsten, in denen sich die Naivität der ehemaligen Lehrer und Schulleiter entlarvt und sie ihre anhaltende selektive Wahrnehmung offenbaren. Mitunter möchte man den Film anhalten, zurückspulen, um sicherzugehen, dass man sich nicht verhört hat.
Da ist der ehemalige Lehrer Henner Müller-Holtz, der von den Sechzigern bis 2001 an der Odenwaldschule unterrichtete. Er mutmaßt unter anderem, dass sicher die Hälfte aller Mitarbeiter etwas mit einem oder einer der Schutzbefohlenen gehabt habe - auch er selbst. Aber "Missbrauch", nein, davon könne nicht die Rede sein. Einvernehmlich sei das gewesen. Doch die "professionelle Distanz" habe er wohl überschritten.
Oder der ehemalige Schulleiter Wolfgang Harder, der Becker 1985 ablöste und bis 1999 blieb. Der, als ihn der Brief der beiden Opfer erreichte, vor allem darauf bedacht war, dass die Geschichte "nicht in die Bild-Zeitung" komme und den Opfern vorwarf, den Ruf der Schule untergraben zu wollen. Und der die Arme vor seiner Brust verschränkt und sagt: "Ich habe meine Integrität immer gewahrt."
http://www.spiegel.de/kultur/tv/0,1518,779127,00.html
Wie konnte es geschehen, dass sich an der demokratischsten Schule Deutschlands teils bis zu sechs Päderasten die Jungen zuschanzten? Der Film kann, wie die AutorInnen sagen, keine abschließende Antwort geben. Aber er wirft die beklemmende Frage in aller Dringlichkeit auf: Wenn es an der OSO geschehen konnte, die von Schülerparlament und linker Debattenkultur geprägt war, ist es dann überall möglich? Ist die Antwort auf pädagogische Naivität, Unfähigkeit und Skrupellosigkeit etwa nicht "mehr Schuldemokratie"?
http://www.taz.de/!75881/
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