Napoleon vom Bosporus
von Thomas Baader
Recep Tayyip Erdogan betreibt ein doppeltes Spiel: Während er die Türkei auf einer formaljuristischen Ebene modernisiert, führt er das Land gleichzeitig in eine gesellschaftliche Restauration. Der demokratische Staat Türkei hat daher für ihn vor allem nur die Funktion, reaktionären und ultra-religiösen Positionen ein Spielfeld zu bieten, auf dem sie sich verwirklichen können. Diese innenpolitische Rückwärtsrolle korrespondiert mit einem außenpolitischen Größenwahn: Der neue starke Mann im Nahen Osten will die Araber um sich scharen und Israel demütigen.
Nein, Recep Tayyipp Erdogan stört sich nicht daran, dass hinter der „Gaza-Solidaritätsflotte“ eine islamistische Organisation stand. Warum sollte er auch? Seine eigene Partei steht schließlich für eine Art „Islamismus light“. In der Gesetzgebung zeigt man sich liberal, gesellschaftlich übt man aber enormen moralischen Druck auf die türkischen Staatsbürger aus. Theoretisch kann, so die für das Ausland vorgetragene Botschaft, jeder nach seiner Facon glücklich werden. Die für das Inland vorgetragene Botschaft hingegen lautet, dass die Menschen am besten fromm, die Frauen überdies auch noch züchtig sind.
Eine solche Re-Religiosisierung muss sich auch außenpolitisch auswirken. Das Bündnis mit Israel war immer ein Projekt der kemalistischen Eliten gewesen. Je mehr diese an Einfluss verlieren, desto wackeliger wird dieses Bündnis. Daher ist es im Grunde völlig gleichgültig, wie Israel sich gegenüber der Türkei verhält. Unter Erdogan wird sich die Türkei so oder so von Israel abwenden.
Die Erdogan-Türkei ist eine Türkei, die sich bewusst dafür entschieden hat, kein verlässlicher außenpolitischer Partner mehr zu sein. Die Bündnispartner vor den Kopf zu stoßen wird politisches Alltagsgeschäft: Anerkennung der Hamas, Lob des iranischen Unrechtsregimes, Provokationen in Richtung Armenien und Israel. Das alles geschieht vor dem Hintergrund einer „Wir sind endlich wieder wer“-Mentalität. Und diesen Anspruch kann man eben am besten durch politisches Abenteurertum beweisen. Unter Erdogan spielt die Türkei Großmacht.
Recep Tayyip Erdogan gefällt sich sichtlich in der Rolle des Napoleon vom Bosporus. Er spuckt die großen Töne, die im türkischen Volk ankommen, er provoziert, übertreibt, dramatisiert, fordert, gibt sich beleidigt – ganz der große Staatsmann. Das Zurückhaltende, das Subtile, das De-Eskalierende – kurz: das Diplomatische – ist ihm gänzlich fremd.
Eines aber benötigt der große Napoleon, um in seiner Rolle vollends aufzugehen: Ein von seinen Eskapaden überfordertes, unvorbereitetes Ausland, das ihm die Illusion von Größe belässt, indem es ihm keine Grenzen setzt. Die Europäer spielen diese Rolle trefflich.
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