DIE MENSCHENRECHTSFUNDAMENTALISTEN
- Weder Populisten noch Verharmloser -
StartseiteBlogÜber unsLinksImpressum
Antidemokraten
Interviews
Menschenrechte
Rezensionen & Kritiken
Satire
Terror
Vermeintlich Themenfremdes
September, 2010
Oktober, 2010
November, 2010
Dezember, 2010
Januar, 2011
Februar, 2011
März, 2011
April, 2011
Mai, 2011
Juni, 2011
Juli, 2011
August, 2011
September, 2011
Oktober, 2011
November, 2011
Dezember, 2011
Januar, 2012
Februar, 2012
März, 2012
April, 2012
Mai, 2012
Juni, 2012
Juli, 2012
August, 2012
September, 2012
Oktober, 2012
November, 2012
Dezember, 2012
Januar, 2013
Februar, 2013
März, 2013
April, 2013
Juni, 2013
Juli, 2013
August, 2013
September, 2013
Oktober, 2013
November, 2013
„Die große Verschleierung“: Deutlichkeit ohne Pauschalisierung

Rezension

von Thomas Baader

 

Es überrascht nicht, dass Alice Schwarzers neuestes Buch polarisiert. Die spektakulärste (aber keineswegs neue) Forderung der Herausgeberin dürfte wohl die nach einem Kopftuchverbot für Schülerinnen sein. Doch „Die große Verschleierung“ enthält wesentlich mehr.

                                                                                                          

Außer Schwarzer selbst kommen in dem Buch weitere elf EMMA-Autorinnen zu Wort sowie drei anonyme Schreiberinnen. Einige wenige Beiträge (die zuvor bereits entweder in der EMMA oder – seltener – in anderen Printmedien erschienen waren) weisen bereits ein beträchtliches Alter auf und sind daher inhaltlich nicht auf dem neuesten Stand. Auch kommt es gelegentlich zu Wiederholungen einiger Aussagen, was aber bei einem Sammelband nicht weiter überraschen dürfte.


Schwarzer thematisiert mit viel Sachkenntnis die oftmals zweifelhafte Rolle der großen Islamverbände. Problematisch sei vor allem, dass diese Verbände, die nur eine Minderheit der Muslime repräsentierten, den öffentlichen Dialog stark dominierten. In der Unterstützung der islamischen Verbände für Eltern, die ihre Töchter vom Schwimm- oder Sportunterricht befreien wollen, erkennt Schwarzer eine Gefährdung für eine geschlechtergerechte Erziehung. Es ist der Autorin uneingeschränkt zuzustimmen, wenn sie das Prinzip der Koedukation als „Grundstein der Gleichberechtigung“ bezeichnet. Und hier droht in der Tat eine nicht zu unterschätzende Gefahr, wenn das Innenministerium eines deutschen Bundeslandes befindet, Religionsfreiheit habe Vorrang vor dem staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag.

 

In diesem Zusammenhang ist auch das Kopftuchverbot für Schülerinnen zu nennen. Schwarzer und auch andere Autorinnen verweisen immer wieder auf die Erfolgsgeschichte, die ein solches Verbot in Frankreich darstelle. Tatsächlich ist der große gesellschaftliche Konsens, der in unserem Nachbarland in dieser Frage erreicht wurde, beeindruckend, und das Zusammenleben der Schülerinnen und Schüler gestalte sich zudem weniger problematisch. Rita Breuer zeigt außerdem auf, wie an deutschen Schulen muslimische Schülerinnen, die kein Kopftuch tragen, von der Mehrheit der Verschleierten gemobbt und schikaniert werden. Und Cornelia Filter konstatiert schließlich für die Situation in Deutschland: „Die Konservativen scheinen auch das Spiel mit der falschen Toleranz klarer durchschaut zu haben als die Linken.“

 

Weiterhin verweist Rita Breuer in einem ihrer Beiträge auf eindeutig frauenfeindliche Passagen, die sich auf der Website des Zentralrats der Muslime finden lassen. Zudem kritisiert sie, dass deutsche Notare islamisches Erbrecht „mit deutlicher Benachteiligung der Mädchen“ und deutsche Gerichte islamisches Scheidungs- und Sorgerecht – wieder zum Nachteil der Frauen – anwendeten. Erschütternd wirken die Berichte der anonymen Musliminnen, die in Schwarzers Buch ihre persönlichen Erfahrungen mit Gewalt und Intoleranz in einem religiös dominierten Milieu schildern.

 

Bei so viel Offenheit erfahren Schwarzer und ihre Mitstreiterinnen natürlich nicht nur Zuspruch. Partick Bahners in der FAZ und Özlem Topcu in der ZEIT haben auch schon reichlich Schaum vor dem Mund und fahren die ganz schweren Geschütze auf. Für Bahners ist Schwarzer zu den Jakobinern unserer Zeit zu zählen (zu Bahners fällt dem Rezensenten wirklich nur noch wenig ein); der „siegreiche Feminismus“ schere sich nicht mehr länger um Minderheiten. Topcu räsoniert darüber, warum die verschleierte Gestalt auf dem Buchcover gesichtslos bleibe und sieht darin ein Wahrnehmungsdefizit Schwarzers. Auf die Idee, dass Schwarzer mit dem Cover die Unsichtbarmachung von Frauen durch die Islamisten thematisiert, kommt Topcu hingegen nicht. Das „selbstgerechte Wir“, dass Topcu bei Schwarzer ausgemacht haben will, will sich in diesem Buch auch bei genauester Analyse nicht finden lassen: Zu ausgewogen, zu nachdenklich und zu differenziert sind die Aussagen der zwölf Autorinnen, als dass der Vorwurf der Engstirnigkeit verfangen würde. Es wird sehr schnell deutlich, dass die beiden Rezensenten von FAZ und ZEIT Schwarzers  Buch allenfalls angelesen, mit Sicherheit aber nicht durchgelesen haben. Denn die Autorinnen unterlassen es niemals, zwischen Islamismus und Islam zu unterscheiden; auch wird die Rolle der liberalen Alevitischen Gemeinde und ihres zweiten Bundesvorsitzenden Toprak gewürdigt. Ebenfalls wird der oftmals erhobenen Behauptung, Deutschland würde systematisch islamisiert, in Schwarzers Buch eher skeptisch begegnet. Für solche Feinheiten ist jedoch in den Rezensionen von Bahners und Topcu ganz offensichtlich kein Platz.

 

Das Buch richtet seinen Blick sowohl auf Einzelschicksale wie auch auf das große Ganze: Im Zusammenhang mit einem möglichen EU-Beitritt der Türkei wird die Rolle Erdogans thematisiert, die Situation in Afghanistan, dem Irak und dem Iran wird eindrücklich geschildert. Necla Keleks Beitrag zeigt, dass in der Türkei ebenfalls Parallelgesellschaften – hier die Westlich-Liberalen, dort die Reaktionär-Religiösen – nebeneinander existieren. Auch für die Toleranz, die christliche Vertreter gegenüber den problematischen Auswüchsen des Islam zeigen, wird in dem Buch eine plausible Erklärung gefunden: Neben der üblichen weit verbreiteten Verblendetheit scheinen in der Tat christliche Hardliner auf eine Renaissance der gesellschaftlichen Stellung ihrer eigenen Religion zu hoffen, die wohl nicht ausbleiben würde, wenn man erstmal dem Islam unzählige Sonderrechte eingestanden hätte.

 

Letztlich sollte dem Leser eine Aussage von Schwarzers Mistreiterin Khalida Messaoudi-Toumi nach der Lektüre des Buches im Gedächtnis bleiben: dass es zwar viele Kulturen gebe, aber nur eine Zivilisation. Die menschliche.

<< Zurück Neuen Kommentar hinzufügen
0 Elemente gesamt
Kommentar hinzufügen
Name*
Betreff*
Kommentar*
Bitte geben Sie den Bestätigungscode ein, den Sie auf dem Bild sehen*
Bild neu laden