Lesehinweis
Für die mangelnde Integration ist also auch die Islamisierungswelle verantwortlich?
KIZILHAN: Nicht nur. Aber seit 2001 kann man beobachten, dass die Zahl der religiös Gebundenen wegen der angeblich neuen Verteufelung des Islam gestiegen ist. Das hat die Integration insofern behindert, als Religion als politische Lebensweise den Kontakt zu der deutschen Bevölkerung behindert.
Damit gab es eine Abgrenzung zu dieser Gesellschaft?
KIZILHAN: Die Abkehr von der deutschen Lebensweise äußert sich in mangelnden Kontakten zu deutschen Jugendlichen. Sie gehen nicht gemeinsam aus. Und bei Ferienaufenthalten, die von der Schule organisiert werden, haben solche Jugendliche Probleme.
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KIZILHAN: Die dritte Generation, also die jungen Erwachsenen, sind jetzt in dem Alter, in dem sie die Macht an sich reißen wollen, aber die erste Generation ist noch zu jung, um diese abgeben zu wollen. In einer Übergangsphase werden wir noch heftige Konflikte erleben. Zum Beispiel im Bereich Ehrenmord und häuslicher Gewalt.
Als Psychologe und Psychotherapeut erleben Sie die Probleme hautnah. Wie wirkt sich das auf Krankheitsbilder aus?
KIZILHAN: Das ist sehr spannend. Kulturelle Anpassungen führen dazu, dass sich die Krankheitsbilder verändern. So haben die Jugendlichen von heute die gleichen Ess- und Persönlichkeitsstörungen, wie wir sie bei deutschen Jugendlichen sehen. Während die ältere Generation und auch deren Söhne und Töchter an typischen Krankheitsbildern wie Ängsten, Depressionen und psychosomatischen Erkrankungen leiden. Ursache sind Ängste vor Arbeitsplatzverlust, Macht- und Kompetenzverlust. Zu 80 Prozent aber stehen Familienkonflikte dahinter. Da möchte eine junge Frau den von der Familie ausgesuchten Mann nicht heiraten. Stattdessen will sie ausziehen und einen Freund haben. Es ist der Kampf um individuelle Freiheiten gegen die kollektive Einschränkung. Die Frau muss behandelt werden, weil sie selbstmordgefährdet ist, aber auch der Opa, weil er darunter leidet, dass er sich nicht durchsetzen konnte.
Sind noch viele Ehen arrangiert?
KIZILHAN: Ja. Und es kommt sogar immer öfter vor, dass die jungen Frauen aus der Türkei eine höhere Schulbildung haben als die jungen Männer in Deutschland. Da erlebt so manche eine böse Überraschung. Wir haben sehr viele Patientinnen in diesem Bereich. Es müsste in der Öffentlichkeit deutlicher werden, dass es vielfältige Hilfen für diese Frauen gibt, dass sie nichts zu befürchten haben, wenn sie ihre Männer verlassen. Leider spielt auch hier die Glaubensgebundenheit eine verschärfende Rolle.
http://www.ksta.de/html/artikel/1320057514493.shtml
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