Arzu Özmen wurde 18 Jahre alt, aber niemals mündig
Die Kundgebung für die ermordete Arzu Özmen am 21.01.2011 in Detmold: Bericht und Nachbetrachtung
von Thomas Baader
Es ist für uns ein weiter Weg bis nach Detmold. Meine Frau und ich hatten uns entschlossen, mit dem Auto bis nach Hanau zu fahren und von dort aus die Bahn zu benutzen. Am Hanauer Hauptbahnhof gehe ich noch schnell in die Buchhandlung, um mir Lektüre für die lange Zugfahrt zu besorgen. Bei den Comics stehen drei Mädchen im Grundschulalter, die Kopftuch tragen. Es ist so, als ob das alles beherrschende Thema des heutigen Tages – die Frage nach Integration, Frauenrechten und der Rolle der Religion – auf eine gespenstische Art und Weise hier bereits ihre Schatten vorauswirft.
Mehrere Stunden später. In Detmold nehmen wir ein Taxi, das uns vom Bahnhof zur Bäckerei bringt, wo der Trauermarsch beginnen soll. Während der Fahrt kommen wir mit dem Taxifahrer ins Gespräch. Probleme gebe es in letzter Zeit vermehrt, so hören wir. Der Fahrer, ein älterer Herr, beklagt sich darüber, dass kurdischstämmige Jugendliche oft in kleinen Gruppen auf der Suche nach Streit durch die Stadt ziehen. „Wenn die mir irgendwo entgegen kommen und auf dem Bürgersteig ist nicht genügend Platz für uns beide, wechseln die niemals die Straßenseite. Das mache dann lieber ich. Denn wenn ich mich mit denen versehentlich anremple, gibt’s Ärger.“ Dass das Mädchen tot ist, sei für ihn schon klar gewesen, als in der Presse noch lediglich von einer Entführung berichtet wurde.
Wir sind früh da. In und vor der Bäckerei in Detmold-Remmighausen ist noch niemand. Im Schaufenster wird durch Schilder und Plakate der Ermordeten gedachten, vor dem Geschäft liegen Blumen. Da wir noch nichts gegessen haben und noch Zeit ist, suchen wir eine nahegelegene Pizzeria auf. Dort ist auch das Kamerateam des WDR eingekehrt. Eine freundliche Unterhaltung. Man merkt bei irgendwie bei jedem Menschen, dem wir heute begegnen, dass er Anteil nimmt am Schicksal von Arzu Özmen. Draußen hat es inzwischen angefangen, heftig zu regnen. Wir warten ab, bis der Regen nachlässt, und gehen dann hinüber zur Bäckerei.
In der Bäckerei spricht Serap Cileli gerade mit Journalisten. Sie zeigt sich irritiert darüber, dass einige unserer lokalen Unterstützer darum gebeten haben, nicht namentlich genannt zu werden. „Vor wem haben die Angst? Vor wem, wenn doch alle so gut integriert sind, wie es immer heißt?“ Wir begrüßen die anderen Anwesenden, alte Bekannte und neue Gesichter. Vor der Bäckerei entsteht nach und nach eine Menschenmenge. Blumen werden niedergelegt, die Journalisten fotografieren, filmen und interviewen. Hier und da weinende Gesichter. Der Bäcker, ein älterer Herr, unterhält sich mit jemand anderem darüber, ob Sicherheitsmaßnahmen für sein Geschäft notwendig seien. Seine Bäckerei war die letzten Tage Anlaufstelle gewesen für alle, die ihre Trauer um Arzu zeigen wollen. Aus Arzus Freundeskreis war auch zu hören gewesen, dass es im Vorfeld der Veranstaltung vereinzelt zu Drohungen gekommen war. Der Bäcker jedoch wirkt entschlossen. „Hut ab vor Ihrem Mut“, ruft ihm einer der Anwesenden zu.
Einige hundert Menschen haben sich mittlerweile draußen versammelt. Letzte Vorbereitungen werden durchgeführt. Um 16.30 schließlich setzt sich der Trauermarsch in Bewegung. Wir laufen die etwa 3 km von der Bäckerei in Remmighausen zum Detmolder Marktplatz. Auffällig viele junge Leute, wohl hauptsächlich Arzus Mitschüler. Eine im Rollstuhl sitzende alte Frau mit versteinertem Gesicht wird von einer jüngeren Frau die gesamte Strecke lang geschoben. Gegen 16.50 kommt es zu einem Zwischenfall, der allerdings den meisten Teilnehmern des Trauerzuges entgangen sein dürfte: Auf einer Straße, die an dieser Stelle parallel zu der unsrigen verläuft, fährt ein Auto vorbei, der Fahrer brüllt uns „Ihr Hurensöhne“ entgegen. Ich stehe zufällig genau an der richtigen Stelle, um den Ruf deutlich wahrzunehmen. Später auf dem Marktplatz bestätigen mir auch einige andere Teilnehmer, den Ruf gehört zu haben.
Schließlich Ankunft auf dem Marktplatz. An der Kundgebung beteiligen sich etwa 500 Menschen. Das ist viel für eine Veranstaltung dieser Art, denn vergleichbare Kundgebungen waren in der Vergangenheit eher schwach besucht gewesen. Es ist ein Hoffnungsschimmer. Aber dennoch kann ich mich eines Gedanken nicht erwehren: Wäre Arzu Özmen kein Mensch, sondern ein Bahnhof in Stuttgart gewesen, wären wohl viele Tausende Deutsche ohne Migrationshintergrund gekommen; wäre sie ein in der Türkei inhaftierter PKK-Terrorist gewesen, hätte man wohl mit ein paar Tausend kurdischstämmigen Mitbürgern rechnen können. Eine Demonstration gegen den Naturpark Teutoburger Wald, die einige Stunden vor unserer Kundgebung stattgefunden hatte, hatte immerhin zweitausend Menschen auf die Straße gebracht. Aber Arzu Özmen ist nur ein achtzehnjähriges ermordetes Mädchen. Diese Gesellschaft hat eben einfach andere Prioritäten.
Einige Jesiden sind da – doch wenn man bedenkt, dass es sich um eine der ihren handelt und um ein Thema, dass diese Menschen auf eine besondere Weise angeht, sind es verblüffend wenige. Und wieder ein Gedanke: Wären wohl mehr von ihnen gekommen, wenn Arzus Mörder ein deutscher Neonazi gewesen wäre? Claudia Roth und Konsorten wären dann wohl sicherlich auch hier. Arzu Özmen ist ein Mordopfer zweiter Klasse.
Mittlerweile ist es dunkel. Es werden Blumen niedergelegt und Grablichter aufgestellt. Es ertönt „Wenn ein Lied meine Lippen verlässt“, gesungen von Sarah Medina. Melodie und Text haben eine starke Wirkung. Zu meiner Linken weint meine Frau und rechts neben mir eine mir unbekannte Frau mit Kopftuch.
Dann kurze Redebeiträge des Landrates, des Bürgermeisters und der stellvertretenden Bürgermeisterin. Für andere junge Menschen, so heißt es, bedeute achtzehn Jahre alt zu werden so etwas Einfaches wie Autofahren dürfen – und damit mehr Unabhängigkeit, Freiheit und Selbstbewusstsein. Arzu Özmen wurde mit dem Erreichen des achtzehnten Lebensjahres zwar vor dem Gesetz ein mündiger und für sich selbst verantwortlicher Mensch, niemals jedoch in den Augen ihrer Familie.
Serap Cileli spricht. Ihre Rede ist kämpferischer und direkter als die ihrer Vorredner. Sie klagt eine Gesellschaft an, die Gewalt gegen Frauen und Mädchen nicht deutlich genug verurteilt – aus Angst, als ausländerfeindlich wahrgenommen zu werden. Stärker als die anderen Redner betont Cileli die Notwendigkeit einer Veränderung. Es überrascht nicht, dass sie auch mehr Applaus erhält.
Als schließlich der ältere Bäckermeister spricht, schaffen es seine einfachen, stockend vorgetragenen Worte, die Menschen auf dem Platz zu berühren. Er kennt Arzu seit mehr als 15 Jahren. Er hat, das wird uns klar, sehr viel mehr verloren als bloß eine Aushilfe in seiner Bäckerei. Vielleicht haben Menschen wie er das Mädchen mehr geliebt und verstanden, als es ihrer eigenen Familie jemals möglich gewesen ist.
Die Kundgebung endet mit einem Lied, erneut vorgetragen von Sarah Medina. Die Menge löst sich danach schnell auf, einige Menschen bleiben noch und führen weitere Gespräche.
Rückfahrt mit dem Taxi. Derselbe Taxifahrer. Ein kurzes Gespräch über die Kundgebung, dann erzählt er: „Manchmal wollen die mit mir auch über den Preis für eine Fahrt verhandeln. Wenn ich dann sage, dass da nichts geht, brüllen die ‚Nazi’ und verschwinden. Habe ich schon oft erlebt.“
|